Magdeburg
macht Osten stolz und zehn Millionen sahen zu
Leipzig
(Eig.
Ber./sid). Viertligist 1. FC Magdeburg lässt im Osten die
Korken knallen, beim deutschen Fußball‑Rekordmeister FC Bayern
München herrscht dagegen nach einem "Ausflug" in die neuen
Bundesländer wieder einmal Katerstimmung. Bayern Coach Ottmar Hitzfeld
sprach von einer "Blamage" des Pokalverteidigers, in der Bundesliga
hatte seine Mannschaft schon bei Hansa Rostock und Energie Cottbus die
Punkte gelassen. Fast zehn Millionen Zuschauer hatten das Bayern‑Aus
in der zweiten Runde des DFB‑Pokals am Mittwochabend live in der
ARD verfolgt. Diesen Spitzenwert gab es beim Elfmeterschießen, im Schnitt
schauten 7,18 Millionen zu. Dies entspricht einem Marktanteil von 26,1
Prozent.
Wir-Gefühl
Von
PHILIPP v. WILCKE
Das
war Balsam für die Ost-Seele: Viertklassige Magdeburger Kicker zogen
den Weltstars von Bayern München die Lederhosen aus. Fast zehn Millionen
erlebten die Fußball-Sensation live im TV, und der grenzenlose Jubel
ertönte nicht nur im Stadion, sondern auch in vielen ostdeutschen Wohnzimmern
und Kneipen. "Wir sind wieder wer", hieß es nach dem uner-
I warteten deutschen WM-Sieg 1954 - damals freilich unter ganz anderen
Umständen. Der viel zitierte Ausspruch von einst trifft aber auch heute
den Nagel auf den Kopf. Denn die Begeisterung für das Wunder von Magdeburg
erfasste nicht nur Fußball-Fans und war nicht allein der Auferstehung
des ostdeutschen Traditionsclubs geschuldet, sondern war vielmehr Ausdruck
eines ungebrochenen Ossi-Wir-Gefühls: Die Schwachen, Unterschätzten
halten zusammen und sind am Ende die Starken.
Üble Klischees von
DDR-nostalgischer Gefühlsduselei - so mag sich mancher intellektuell
angewiedert fühlen. Und natürlich wäre es primitiv, deutsch-deutsche
Befindlichkeiten zehn Jahre nach der Einheit allein an einem Fußballspiel
festzumachen. Doch wer tut das schon? Der Fußball ist vielmehr die Bühne,
auf der nach dem Abstieg auch immer mal wieder ein Aufstieg zu sehen
ist, so wie es sich viele hier wünschen: für den Osten insgesamt, für
ihre Firma und den Verein und oft auch für sich selbst. Diese Aufstiegssymbolik
verkörperte in jüngster Zeit vor allem Energie Cottbus. Und wenn es
darum geht, aus den schlechten Startplätzen nach vorn zu kommen, darf
es ruhig noch mehr Energie sein.
Obwohl der demolierte Mannschaftsbus
der Bayern in Magdeburg ein unnötiges Ärgernis ist - hinter dem Fußballjubel
überzogenen ostdeutschen Fanatismus zu erblicken, ist übertrieben. Gerade Bayern München
hat auch hier zu Lande viele Fans, die es zu schätzen wissen, dass sie
statt DDR- Oberliga und FDGB-Pokal
nun Bundesliga und DFB-Pokal erleben können. Dies ist längst Teil der
deutsch-deutschen Normalität. Es kann
doch nicht falsch sein, wenn Ost-West-Differenzen wie auch andere regionale
Unterschiede - etwa zwischen München, dem Ruhrgebiet und Hamburg - im
Wettstreit auf dem Fußballfeld münden. Nachholebedarf hat der Osten
hier wie überall. Und, dass die, die für
ihn kämpfen, vor allem Profis von außerhalb sind, zeigt, wie
das Regionale im Europäisch-lnternationalen aufgeht.
So können wir uns über das
Fußballwunder an der Elbe im Prinzip uneingeschränkt freuen. Dank sei
den übersättigten Bayern für ihre profihafte Zurückhaltung und den forschen
Magdeburgern für ihre schlaue Taktik. Die Chancen nutzen - das haben
sie uns gezeigt.
Siegesfeiern, viel
Geld und ein neues Image
Magdeburg (dpa). Nach der Pokal-Sensation gegen den großen FC Bayern
stand Fußball‑Magdeburg Kopf. Während um 0.38 Uhr die Dornier mit
einer verstimmten und verschnupften Bayern-Elf an Bord vom Flugplatz
Cochstedt in Richtung München startete, tanzten im VIP-Zelt des Magdeburger
Grubestadions die Pokal‑Helden ihre Sieger‑Polonaise und feierten
bis morgens um zwei ausgelassen den Triumph. Noch lange nach Spielschluss
fuhren Autos durch Magdeburgs Innenstadt, aus denen Fahnen und Schals
in den blau‑weißen Vereinsfahnen flatterten. In zahlreichen Gaststätten
wurde mit Inbrunst die Fußballhymne angestimmt, in der den Bayern die
Lederhosen ausgezogen werden. Magdeburgs
Stadtoberhaupt Polte war mit dem Ausgang des Spiels rundherum zufrieden.
"Ein immenser Imagegewinn für unsere Stadt", freute sich der
Oberbürgermeister. Der sensationelle Spielausgang war zugleich eine Bestätigung
für Poltes hellseherischen Fähigkeiten, denn im Programm zum Pokalschlager
hatte er verkündet: "Mein Tipp lautet 2:2 in der regulären Spielzeit.
Der 1. FCM kommt aber über die Verlängerung, gegebenenfalls nach Elfmeter‑Schießen
weiter." Er konnte gut damit leben, dass es nach 90 Minuten "nur
1:1 stand.
Magdeburgs Trainer‑Legende
Heinz Krügel strahlte mit den 26 000 Fans um die Wette. "Da wird
einem warm ums Herz", sagte der 79-jährige, der 1974 den 1. FC Magdeburg
als Trainer zum Gewinn des Europacups der Pokalsieger führte und im Herbst
des gleichen Jahres mit den Magdeburgern dem FC Bayern im Wettbewerb der
Landesmeister im deutsch-deutschen Duell 2:3 und 1:2 unterlag.Gestern
Vormittag begann indes für die Pokal-Helden wieder der Ernst des Oberliga-Lebens.
Mit schweren Beinen, wenngleich strahlenden Gesichtern absolvierten die
Kicker aus Sachsen‑Anhalts Landeshauptstadt ihr Lauftraining, bevor
in der Sauna das Siegerbier aus der Nacht zuvor ausgeschwitzt wurde.Für
die Spieler zahlt sich der Erfolg in barer Münze aus. Denn der Mannschaftsrat
hatte vor der Partie mit dem Präsidium eine Siegprämie aus gehandelt.
Diese sei, so FCM-Präsident Rüdiger Deumelandt, dem Erfolg angemessen.
Es soll sich dabei um 100000 Mark handeln.Auch für den dreifachen
DDR‑Meister war das Weiterkommen ein finanzieller Volltreffer. Dank
Live-Übertragung, Ticket‑Einnahmen und kurzfristigem Wechsel des
Trikotsponsors kassierte der krisengeschüttelte Verein, der gerade ein
Insolvenzverfahren überstanden hat, eine Million Mark.
"Gekämpft wie die Wahnsinnigen"
Viertligist blamiert Nr. 1 der Klub‑Weltrangliste
/ Hitzfeld stinksauer, Kahn sucht Schuld beim Schiri
Magdeburg. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. "Ich
werde beim DFB beantragen, den Pokal gleich zum nächsten Spiel mit nach
Magdeburg zu bringen. Gegen wen sollen wir jetzt noch verlieren?",
lachte Hans Georg Moldenhauer, früher Torwart beim FCM, jetzt DFB‑Vize
und Chef des Nordostdeutschen Verbandes. Trainer‑Altmeister Heinz
Krügel empfahl den Bayern nach dem Debakel beimViertligisten gar eine
Gehaltskürzung: "Von einem Deutschen Meister erwarte ich mehr Einsatz und Kampfgeist, da fehlte das Feuer.
Auch Ottmar Hitzfeld wusste nur
zu gut, dass sich seine Mannschaft in der Fußball‑Provinz wieder
einmal kräftig blamiert hatte. Wie schon 1990 in Weinheim und 1994 in
Vestenbergsgreuth schied der große FC Bayern, derzeit Nummer eins der
Klub‑Weltrangliste, im Pokal bei einem Amateurverein aus. "Ich
bin maßlos enttäuscht, wir konnten uns nie durchsetzen. Dabei hätte
eine normale Leistung gereicht", knurrte Hitzfeld, nicht ohne den
Magdeburgern zu gratulieren: "Sie haben Fußball‑Geschichte
geschrieben."
Fast zehn Millionen Zuschauer
waren , in der ARD live dabei, als FCM‑Torwart Miroslav Dreszer
die Elfmeter von Jens Jeremies und Giovane Elber parierte und Dirk Hannemann
den letzten Strafstoß zum "historischen" 5:3‑Erfolg
(1:1, 1:1) versenkte. "Nach der Verlängerung hatten wir doch schon
gewonnen", meinte Dreszer, "daher hatten die Bayern beim Elfmeterschießen
weiche Knie." In den l20 Minuten zuvor war kein Klassen‑Unterschied
zu erkennen, wohl aber eine riesige Kluft bei Moral und Willenskraft.
"Kompliment an Magdeburg, die haben gekämpft wie die Wahnsinnigen",
lobte Bayern‑Manager Uli Hoeneß ‑ und verkniff sich einen
Kommentar zur eigenen Millionen-Truppe, die lustlos bis behäbig ihr
Pensum abspulte.
Denn für die Bayern lag
Magdeburg irgendwo zwischen Bremen, Paris, Trondheim und London, irgendwo
zwischen (wichtiger) Bundesliga, (noch wichtigerer) Champions League
und (keinesfalls unwichtiger) WM-Qualifikation. Was für die Elbestädter
das Spiel des Jahres bedeutete, war für die Münchner eine lästige Pflichterfüllung
im ungeliebten Pokal, in dem sie nur verlieren können. Vielleicht
wollten ihr einige nicht nachkommen, vielleicht verzockte sich Hitzfeld
auch beim Rotations-Roulette. Die vom Coach für die nächste Saison bereits
ausgemusterten Thomas Strunz und Michael Wiesinger gewannen kaum einen
Zweikampf, Alexander Zickler und Paulo Sergio blieben blass. Als Hasan
Salihamidzic, Jeremies und Elber kamen, war die Partie schon verfahren.
Roque Santa Cruz langweilt sich auf der Ersatzbank, während Mehmet Scholl
und Thomas Linke erkältet daheim vorm Fernseher saßen. "Wer bei
uns auch spielt, er muss in Magdeburg gewinnen können", giftete
Hitzfeld angesichts seines Super-Kaders, zu dem nächste Woche auch wieder
Effenberg stoßen wird.
Oliver Kahn suchte die Schuld
ohnehin woanders. "In allen strittigen Situationen entscheiden
die Schiedsrichter gegen uns, auch hier haben wir in der Verlängerung
einen klaren Elfmeter nicht bekommen", schimpfte der Nationaltorwart
und dürfte damit die Spaltung der Fußball-Nation in Bayern-Fans und
Bayern-Gegner vertieft haben. Fakt ist: Der Osten liebt die Münchner,
weil sie den bedürftigen Rostockern und Cottbusern jeweils drei Punkte
überließen und den seligen Magdeburgern das Achtelfinale. Sie sollten
öfter kommen. Wir spotten auch nicht mehr. Steffen Enigk